Im vorhergehenden Artikel Wie entwickelten sich die Masserien nach dem Mittelalter in Apulien? wurde beleuchtet, wie und wann das ländliche Apulien entstand, das wir heute noch entdecken dürfen.
Bis zur Einigung Italiens 1861 blieb Apulien Spielball und Kriegsschauplatz in den Auseinandersetzungen der europäischen Großmächte. Die große Pestepidemie von 1656 verwüstete das gesamte Königreich Neapel und bis auf eine Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs im 18. Jahrhundert verharrte die apulische Region in Armut und Rückständigkeit. Weder die Habsburger noch die spanischen Bourbonen verfolgten eine Politik der Entwicklung und Förderung in ihren süditalienischen Besitzungen.
Mit dem Sturz der spanisch-bourbonischen Dynastie durch die Revolutionstruppen Giuseppe Garibaldis endeten erstmalig die Zeiten jahrhundertelanger Fremdherrschaft. Das Herrschaftsgebiet des ehemaligen Königreichs Neapel wurde in das 1861 neu entstehende Königreich Italien eingegliedert: die Geburt des ersten modernen italienischen Nationalstaats unter der Herrschaft des Hauses Savoyen.
Guiseppe Garibaldi 1861
Photo: Library of Congress, Public domain, via Wikimedia Commons
Den wirklichen Anschub für erste Schritte zu Modernisierung und Fortschritt in Apulien gab jedoch Napoleon Bonaparte: nach dem Einmarsch französischer Truppen inthronisiert dieser seinen Bruder Joseph Bonaparte 1806 als König von Neapel. Unzufrieden mit diesem, verschiebt er ihn jedoch schon 1808 nach Spanien und setzt seinen Schwager Joachim Murat als König ein.
Wenn auch wieder eine Besatzungszeit, so verdankt Süditalien ihm den Aufbau einer modernen Verwaltung und die Abschaffung der bis dahin geltenden feudalen Strukturen. 1809 führte Murat den Code Napoléon ein, der zum ersten Mal Scheidung, Zivilehe und Adoption legalisierte. Im gleichen Jahr wurde ein Gesetz erlassen, dass die Schließung der Klöster im gesamten Königreich festlegte, das Eigentum ging in den Staatsbesitz über. Der Aufbau eines Katasters, die Einführung einer Grundsteuer, die Liberalisierung des Handels und der Anschub moderner Baumaßnahmen führten zu einem starken Impuls hin zur Aufklärung und zur Moderne.
Schon wenige Jahre später ist die Ära Napoleons jedoch vorbei und das infolge des Wiener Kongresses gebildete Königreich beider Sizilien fällt 1816 wieder an die spanischen Bourbonen.
Codice civile by Napoleone Bonaparte in an italian Edition
Photo: Archivio di Stato di Milano, Public domain, via Wikimedia Commons
Bis weit in das 19. Jh. hinein wurde das apulische Land über Jahrhunderte gequält und auch sehr geprägt von Räuberbanden und Sklavenjägern unterschiedlicher Couleur. Nicht nur fremdländische Mächte nutzten die schwankenden Machtverhältnisse dieses strategisch so interessanten Landstrichs aus, die fehlende Entwicklung im Binnenland und das Desinteresse der jeweiligen Besatzer ließen viel Raum für Parallelstrukturen und Räubertum.
Das Hinterland der Murgia war lange Zeit dicht bewaldet, es gab außer den meist sogar antiken Hauptverbindungsachsen kaum ein Straßennetz. Je nach Interessenlage wurden die Banden auch von den örtlichen Feudalherren eingesetzt, um Aufstände zu unterdrücken und überhöhte Steuern einzutreiben. Andererseits erhielten einige Räuber auch enormen Rückhalt in der Bevölkerung, wenn sie sich gezielt gegen Besatzungsmächte und reiche Herren wandten.
Carmine Crocco, 1830-1905, Banditenanführer mit dem Mythos eines Volkshelden
Photo: Unknown author, Public domain, via Wikimedia Commons
Insbesondere nach der Gründung des Königreichs Italien wandten sich ehemalige Unterstützer Garibaldis in Guerillaaktionen gegen den neugegründeten Staat. Aus Enttäuschung über die ausbleibenden Verbesserungen der Lebensbedingungen besonders für die Landbevölkerung im Süden Italiens und das äußerst grausame Vorgehen der königlichen Soldaten gegen Aufständische führten zu einem starken Anwachsen der sogenannten Briganti in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Bis heute genießen viele von ihnen trotz ihrer ebenso großen Grausamkeit einen mythischen Kultstatus.
Die Vernachlässigung und die infolgedessen anarchischen, völlig undurchsichtigen Zustände führten sicher auch dazu, dass das ländliche Apulien über lange Zeit wenig prosperierte, die Armut groß blieb und letztendlich auch kulturell, soziologisch und baulich vieles unverändert blieb.
Auch die hohen Mauern, die hier jeden Bauernhof, jeden Zitrusgarten, jede noch so kleine Altstadt umgeben, künden von dieser ständigen Unsicherheit.
Aus heutiger Betrachtung sind wir glücklich erstaunt darüber, wie originalgetreu sich die Altstädte, Dörfer und Masserien erhalten haben, ohne die gerade in Nordeuropa so furchtbaren Verschandelungen des moderneren Zeitalters. Jedoch sollten wir nicht vergessen, dass es vor allen Dingen die gravierende Armut war, die bis vor nicht allzu langer Zeit die Menschen in ihre vermeintlich archaischen Lebensumstände zwangen.
Michelina de Cesare, 1841-1868, bekannte „Brigantessa“
Photo: Unknown author, Public domain, via Wikimedia Commons
Das Ende des 1. Weltkriegs (an dem Italien auf der Seite der Entente, also der Siegermächte teilnahm) löste 1919 eine schwere Staatskrise aus, in dessen Folge die Faschistische Partei unter Benito Mussolini 1922 die Macht übernehmen konnte.
Schon in den beiden Jahren davor wurde Apulien Schauplatz von mörderischen und flächendeckenden Übergriffen der faschistischen Schwarzhemden. Als Kampf gegen Sozialisten und Gewerkschaften tituliert, brachten die Einschüchterungen und Gewaltaktionen Apulien als erste Region vollständig unter faschistische Herrschaft, mit Unterstützung der örtlichen Großgrundbesitzer.
Auch wenn in Italien keine Vernichtungslager errichtet wurden, existierten zahlreiche Konzentrationslager, die besonders für jüdische Inhaftierte nur eine Zwischenstation auf dem Weg in den sicheren Tod darstellten. In Apulien gab es in Alberobello, Gioia del Colle, auf den Tremiti-Inseln und in Manfredonia Konzentrationslager, die bis heute eher nicht im öffentlichen Bewusstsein stehen.
Die Absicherung seiner Macht nach innen wollte Mussolini mit großangelegten Infrastrukturmaßnahmen erreichen. In Apulien bedeuteten dies vor allem die Schaffung neuer Getreide-Anbauflächen durch Trockenlegung und Bewässerungsanlagen, neue Dörfer wurden zur gewünschten Ansiedlung von Bauern aus dem Boden gestampft, in den Städten wurden monumentale öffentliche Bauten und Straßenanlagen im faschistischen Stil errichtet, ohne jeden Kontext zu regionalen und historischen Strukturen.
Das teilweise ambivalente Verhältnis Italiens zu seiner Geschichte dieser Epoche gründet sich eventuell auch auf diesen gewaltigen Modernisierungsmaßnahmen in vormals äußerst rückständigen Regionen. Zumal Italien von flächendeckenden Bombardements verschont blieb und eine wirkliche Stunde „0“ weder von Besatzungsmächten noch von inneren Kräften forciert wurde.
Ab 1936 wurde Italien ein enger Verbündeter des faschistischen Deutschland und damit aktiver Teilnehmer des 2. Weltkriegs. Erst die Landung der Alliierten auf Sizilien 1943 bewirkte den Sturz der Diktatur (bis auf einen weiterhin faschistischen Teil im Norden) und Italien wechselte im Kriegsgeschehen die Seiten. 1946 wurde die Monarchie nach einem Referendum endgültig abgeschafft und die Italienische Republik ausgerufen.
Schon vor dem 2. Weltkrieg arbeiteten nur rund 17% der italienischen Industriearbeiter im Süden, zudem wurden auch noch anteilsmäßig wesentlich mehr Industrieanlagen im Krieg zerstört. Das Land war nach dem Krieg noch immer überwiegend landwirtschaftlich geprägt, allerdings mit im Vergleich zu Norditalien wesentlich geringeren Hektarerträgen. Grund dafür war ein großer Anteil von Großgrundbesitzern, die nicht auf ihrem Land wohnten, es nur verpachteten und sich sonst nicht darum kümmerten. Vor 1950 waren im Mezzogiorno noch immer 19% aller Gemeinden ohne Wasserversorgung, 40% ohne Kanalisation, viele ohne Stromversorgung. 24% der Bevölkerung im Süden waren aufgrund der völlig unzureichenden Bildungseinrichtungen Analphabeten. Zwischen 1950 und 1970 ermöglichten weitreichende Bodenreformen, strukturelle Maßnahmen wie Bewässerung, Straßen- und Eisenbahnbau und finanzielle Unterstützung einen wirklichen Aufschwung, jedoch abgesehen von dieser Zeit ist die Kluft zwischen Nord- und Süditalien seit Italiens Einigung 1860 eher gewachsen denn geschrumpft. Die ab 1992 aufgedeckten engen Verbindungen zwischen Politik, Wirtschaft und organisierter Kriminalität lähmten das Land zusätzlich.
Peasant women in Puglia 1954
Photo: Touring Club Italiano, Creative Commons
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Seit einigen Jahren kann man in Apulien jedoch eine sehr erfreuliche Beobachtung machen: die Wirtschaft wächst, vor allem dank der steigenden Zahlen in Landwirtschaft und Tourismus, im Salento ist eine hochwertige Modeindustrie entstanden, die für bekannte Luxusmarken produziert, im Freiland-Gemüseanbau und bei der Anzahl der Weinproduzenten steht Apulien in Italien sogar an 1. Stelle. Es ist zu hoffen, dass somit der jahrzehntelangen Abwanderung endlich ein Ende gesetzt werden kann und vor allem junge Leute wieder eine positive Zukunft in diesem wunderschönen und so reichen Teil ihres Landes sehen.
Die in der Vergangenheit verzögerte wirtschaftliche Entwicklung birgt große Chancen – ein intelligenter, für alle gewinnbringender Tourismus im Einklang mit den historischen Strukturen und der Natur, Ausbau der Infrastruktur unter umweltverträglichen Bedingungen, Nutzung der neuesten Technologien beim Umbau zu regenerativen Energiequellen und nicht zuletzt eine Rückbesinnung auf Apuliens Erbe als Schmelztiegel europäischer, nahöstlicher, nordafrikanischer Kulturen mit allem Grund zum Stolz auf dieses Land mit so einer einzigartigen Identität!
Matera, Photograph taken between 1948-1955
Photo: National Archives at College Park, Public domain, via Wikimedia Commons
Mit großem Respekt und Bewunderung haben wir uns Apulien genähert und für uns entdeckt. Und genau mit dieser Haltung haben wir auch versucht, die uralten Gemäuer von Bambarone La Masseria wieder zum Leben zu erwecken. Vorsichtig Neues hinzufügen, dabei das Alte besonders sichtbar und erlebbar zu machen – das war unsere Idee und unser Anspruch bei der Planung und Renovierung dieser Masseria.
Sehr gerne würden wir Sie einladen, sich ein eigenes Bild zu machen von der Ausstrahlung der historischen Gewölbe, der Grandezza der jahrhundertealten Olivenbäume, dem Duft von Zitronenblüten und würziger Macchia. Sollten wir Sie neugierig gemacht haben, können Sie hier Ihre eigene Apulien-Erfahrung buchen.
Henriette Schneider
8.4.2025
Quellen für den Blog „Eine Zeitreise in die Geschichte Apuliens“:
https://it.wikipedia.org/wiki/Gioacchino_Murat
https://www.diocesiconversanomonopoli.it/diocesi/
https://www.provincia.brindisi.it/index.php/storia-e-tradizioni/i-comuni/fasano
http://www.brundarte.it/2014/10/30/lama-dantico-fasano-br/
https://erenow.org/common/an-armchair-travellers-history-of-apulia/36.php
https://www.patrimoniomondiale.it/?p=68
https://library.fes.de/gmh/main/pdf-files/gmh/1960/1960-09-a-545.pdf
https://www.preistoriainitalia.it
https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_Apuliens#Das_normannische_Reich_in_Unteritalien
https://de.wikipedia.org/wiki/Erster_Kreuzzug
http://www.osservatoriooggi.it/vivi-fasano/guida/72-le-masserie-fortificate
https://www.pugliain.net/la-puglia-fascista/
https://www.pugliain.net/fascismo-faceva-bella-la-puglia/
Guida al Museo “Museo Nazional Archeologico die Egnazia “Guiseppe Andreassi” “; Quorum Edizioni – Bari 2015, Terza edizione settembre 2018
Schede degli Ambiti Pesaggistici; Ambito 7/ MURGIA DEI TRULLI (schema di PPTR)
PPTR Allegato 6 – La “Storia” per il piano